Ein Bezirk mit langer Tradition
Wer schon immer einmal nach Venedig wollte, der muss einfach nur nach Spandau reisen. Gemeint ist hier ein Gebiet in der Ortslage Tiefwerder, dass aufgrund seiner zahlreichen Wasserläufe und Kanäle Klein-Venedig genannt wird. Aber das ist nur eine der zahlreichen Überraschungen, für die es sich lohnt, sich auf den Weg nach Spandau zu machen.

Spandau – das ist eine Stadt mit langer Tradition und seit 1920 der westlichste aller Berliner Bezirke. Und so auch heute noch einer, der sich im besonderen Maße eigenständig versteht. Vielleicht liegt es daran, dass er mit seinen Kerngebieten jenseits der Havel, die sich hier seenartig erweitert, befindet. Oder aber es liegt daran, dass Spandau tatsächlich urkundlich früher erwähnt wurde, als Berlin und lange Zeit zusammen mit Potsdam und Berlin um die Vorherrschaft dieser Region konkurrierte, was zu so skurrilen Ereignissen wie der Spandauer Knüppelschlacht um 1567 führte. Und nicht zuletzt trägt auch das von Berlinern geprägte Image von Spandau, dass es dort provinziell und weit abgelegen sei, dazu bei, den Stolz der Spandauer auf ihre Stadt aufrechtzuerhalten. Was zu Mauerzeiten vielleicht noch eine gewisse Berechtigung hatte, stimmt heute in keiner Weise mehr: Spätestens mit dem U-Bahn-Anschluss in den 80er Jahren und der Fertigstellung des neuen Fernbahnhofs hat Spandau ebenso wie durch die Fernstraßenverbindung der autobahnartig ausgebauten B5 nicht nur wieder Anschluss an das Havelland, sondern auch an die sogenannte weite Welt gefunden. Und so ist Spandau mit seinen rund 247.396 Einwohnern (Stand Dez. 2021) und seinen neun Ortsteilen nun wieder zu neuem Leben erwacht, ganz so, wie es nach der Eingemeindung 1920 der Bürgermeister Koeltze gewünscht hatte, auch wenn das Gebilde von Groß-Berlin nicht seinem Wunsch entsprechend wieder zerfallen ist.
An jenen beliebten Bürgermeister Koeltze erinnert noch der in der Spandauer Neustadt gelegene und nach ihm benannte Park. Die Neustadt bildet zusammen mit den Ortslagen Stresow, Kolk und der Altstadt das eigentliche Zentrum Spandaus. Im Kolk, einem der ältesten Teile Spandaus, gelegen an der Spandauer Havelschleuse, hat sich die dörfliche, nahezu mittelalterliche und liebevoll restaurierte Struktur noch erhalten. Beliebt ist dieses Viertel wegen seiner urigen Lokale, speziell dem in einem ausgedienten Industriebau errichteten Brauhaus, wo vor Ort gebrautes Bier konsumiert werden kann.
Von dort aus sind es nur wenige Schritte bis zur historischen Altstadt von Spandau, in der engagierte Unternehmerkreise bemüht sind, die (Bau-)Sünden der Nachkriegszeit vergessen zu machen und neues Leben einzuhauchen. Zumindest um den Bereich des neuen Kinopalastes gelingt dies gastronomisch. Aber eine florierende Infrastruktur den Handel betreffend wird durch die am Bahnhof Spandau befindlichen Arkaden nicht wie erhofft befördert, sondern eher verhindert. Schließlich findet dort das Konsumentenherz alles, was es begehrt, von preisgünstig bis exklusiv. Dennoch hat die Altstadt mit der Nicolaikirche und dem Marktplatz mit Wochenmarkt mit frischen Produkten aus dem Umland einiges zu bieten. Und nicht zu vergessen der seit den 70er Jahren etablierte Weihnachtsmarkt, der mit seinem großen, nicht nur kommerziellen Angebot nicht nur einer der größten, sondern auch einer der stimmungsvollsten und meistbesuchten in Deutschland ist.
Der Stresow, jenseits der Havel gelegen, ist dagegen immer noch geprägt durch die in seiner militärischen Vergangenheit entstandenen Bauten, Kasernen und z. B. eine Geschützgießerei, auch der Flurname Garnisonsstraße zeugt noch davon. Überhaupt ist Spandau bis in die Gegenwart militärisch geprägt. Die historischen Kasernenanlagen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg direkt von der britischen Schutzmacht übernommen und gingen nach 1989 weitgehend in die Nutzung durch die Bundeswehr über. Lediglich der Flugplatz Gatow wird nicht mehr genutzt, dort findet sich jetzt ein gern besuchtes Museum der Luftwaffe mit vielen interessanten Exponaten.

Auch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Neustadt nördlich der Altstadt ist von Militär- und Industriebauten geprägt, wie dem ehemaligen Luftwaffengerätewerk, das nach dem Zweiten Weltkrieg z. B. als Schule diente und heute als Quartier Carossa seine Wiederbelebung als Einkaufszentrum erfährt. In der Neustadt entstand um die Jahrhundertwende in unmittelbarer Nähe zu den Munitionsfabriken bezahlbarer Wohnraum für die Arbeiter, die Bausubstanz ist teilweise noch gut erhalten. Gleiche Überlegungen, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, gab es in der 80er Jahren, als erneut im eingekesselten Berlin bezahlbarer, aber attraktiver Wohnraum notwendig wurde: So entstand die Idee, auf den inzwischen nicht mehr genutzten Industriearealen rund um die Oberhavel, eine „Wasserstadt“ mit moderat in die Höhe gebauten Mehrfamilienhäusern entstehen zu lassen, ähnlich den zuvor gebauten Anlagen nördlich am Alemannufer. Durch die Wende 1989 und die daraus resultierende Möglichkeit, preisgünstigen Lebensraum im Grünen im Umland zu bekommen, geriet die Entwicklung der Wasserstadt allerdings bis heute ins Stocken.

Diese Region gehört allerdings schon zum nördlich an die Neustadt anschließenden Stadtteil Hakenfelde, geprägt durch Siedlungshäuser im genossenschaftlichen Wohnen – und in der Nähe des ausgedehnten Spandauer Forstes auch mit gediegenen Villen einflussreicher Bürger des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die westliche Fortsetzung im Radeland ist dagegen eher von kleineren Einfamilienhäusern bis hin zu Kleingärten, neuerdings auch unter streng ökologischen Gesichtspunkten geplant und realisiert.

In weiten Teilen ist Spandau von einer ausgeprägt dörflichen Struktur gekennzeichnet, beispielhaft stehen hierfür die Stadtteile Staaken, Gatow und Kladow. Angelegt während der Zeit der Weimarer Republik, wurde die Gartenstadt Staaken im Stil englischer Wohnsiedlungen mit Reihenhäusern und eigenem kleinen Garten errichtet und ist nun nach der „Eingemeindung“ von Weststaaken wiedervereinigt. Dagegen haben sich um die Dorfkerne der, wie der Urberliner sagt, jwd (janz weit draußen) gelegenen Dörfer Gatow und Kladow nach dem Zweiten Weltkrieg größere, aber dennoch beschauliche Siedlungen, bestehend aus Einfamilien- und Doppelhäusern, gebildet. Diese lagen vor der Wende abgelegen in Ruhe, nutzen nun aber aktiv die neuen Orientierungsmöglichkeiten Richtung Potsdam. Alle diese Ex-Dörfer haben ihre positive provinzielle Eigenständigkeit bewahrt, der sich auch neue Bewohner gern anschließen, sei es durch die Teilnahme an ausgiebigen Vereinsleben, der Mitgliedschaft in der Freiwilligen Feuerwehr oder der Organisation lokaler kultureller Veranstaltungen.
Kulturelle Veranstaltungen im großen Stil gibt es außer dem Citadel-Music-Festival in Spandau auf der Zitadelle nicht, dafür fährt selbst der Spandauer gern nach Berlin, aber etliche kleine, aber feine Ereignisse gibt es für Eingeweihte an allen Ecken und Enden. Die Zeiten allerdings, in denen in Spandau in den CCC-Studios unter Atze Brauner mit den Karl-May-Filmen Weltproduktionen auf Hollywood-Niveau gedreht wurden, sind vorbei, auch wenn manch ein Privat-TV noch auf der im Entstehen begriffenen Medieninsel Eiswerder produziert.

Gastronomisch wirkt Spandau nicht plakativ und wer sucht, wird in der südlich der Altstadt gelegenen Wilhelmsstadt, die eine ähnliche Kiezstruktur wie die Neustadt aufweist, schnell fündig und sein Stammcafé oder seine Stammkneipe mit Sicherheit finden.

Auch östlich der Havel befinden sich noch Stadtteile von Spandau, die, obwohl eigentlich nicht zum Kern der Stadt zählen, berlin-, deutschlandweit und international vielleicht bekannter sind als der Rest. Das bezieht sich nicht so sehr auf das in den 20er und 30er Jahren entstandene Siedlungsgebiet Haselhorst, sondern eher auf Siemensstadt, teilweise bereits in Charlottenburg gelegen. Hier befanden sich seinerzeit die großen Produktionsstätten und der Hauptsitz dieses Weltunternehmens, ehe nach und nach im Zuge einer Internationalisierung der Hauptsitz nach München und die Produktionsstätten weltweit verlegt wurden.
Vielleicht am bekanntesten und bei jedem Berlintouristen auf dem Programm ist die Zitadelle Spandau. Dieses ab 1559 von Rochus Graf zu Lynar auf den Überresten vergangener Befestigungsanlagen errichtete Bauwerk entsprach seinerzeit den Idealvorstellungen einer Festung und wurde nie eingenommen, lediglich kampflos übergeben. Heute ist die Zitadelle ein beliebtes Touristenziel, ein gefragter Veranstaltungsort für öffentliche und private Feste aller Art, aber auch ein Rückzugsgebiet für Fledermäuse, die dort bei Führungen bestaunt und studiert werden können.
Natur pur – das ist eh ein Kennzeichen Spandaus. Bedingt durch die Randlage und die Havel findet sich im Bezirk sehr viel Grün, sei es der Spandauer Stadtforst oder aber das Gelände zwischen Seeburg und Gatow, das früher als Rieselfeld genutzt wurde und den Namen immer noch trägt. Und so sind auch die Freizeitmöglichkeiten in Spandau naturnah, speziell kann jeglicher Form von Wassersport nachgegangen werden, sei es Schwimmen, Segeln, Rudern oder Wasserball – hier war und ist Spandau international immer noch ein Begriff.
Ein am westlichen Rande Spandaus gelegener Stadtteil ist das in den 60er Jahren auf der Wiese aus dem Boden gestampfte Falkenhagener Feld. Bezahlbarer Wohnraum für Familien, aber auch in kleineren Wohnungen für Senioren, entstand dort im staatlich geförderten Sozialen Wohnungsbau. Das Falkenhagener Feld braucht hinsichtlich positiver Resonanz ebenso wenig den Vergleich mit der architektonisch sicher interessanten Gropiusstadt wie dem mit dem gigantischeren Märkischen Viertel zu fürchten, hier ist trotz der vielen Neubauten eben auch heute alles etwas intimer und vor allen Dingen grüner.

So zeigt sich selbst hier Spandau als ein für den Eingeweihten liebenswerter und attraktiver Bezirk Berlins. International dagegen ist der Ruf Spandaus eher zweifelhaft. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die vielfältigen militärischen Einrichtungen Spandaus von der britischen Schutzmacht übernommen und somit erlangte Spandau erneut als Militärstandort Bekanntheit. Dazu trug nicht zuletzt auch die in der Wilhelmstadt gelegene Gefängnisanlage bei, in dem in den Nürnberger Prozessen verurteilte nationalsozialistische Kriegsverbrecher ihre Strafe unter Viermächte-Aufsicht absaßen, zumeist bis Mitte der 60er Jahre, Rudolf Hess sogar bis zu seinem Tod 1987. Heute wird dieses Gelände endlich völlig zivil genutzt – als Einkaufszentrum. Und auch die Geschichte der DDR wurde in Spandau aufgearbeitet, diesmal in der JVA Hakenfelde, in der der letzte Staatsratsvorsitzende Egon Krenz seine Freiheitsstrafe wegen Totschlags verbüßte.

Aber auch diese Episode hat Spandau wie vieles in seiner wechselvollen Geschichte hinter sich gelassen. Geblieben ist eine sich inzwischen doch fast zu Berlin gehörig fühlende und die Vorteile der nahen Metropole durchaus schätzende eigenständige Stadt, die durch ihre Lage am Wasser, im Grünen und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein aufgrund der langen und vielfältigen historischen Entwicklung äußerst lebenswert ist. Und so wundert es nicht, dass auch viele Neuspandauer schon nach kurzer Zeit in den nicht verstimmen wollenden und an den Heckscheiben vieler Autos präsenten Kanon einstimmen: „Es war schon immer etwas Besonderes, ein Spandauer zu sein!“
EXKLUSIV / Jennifer Brehm