Überragende Industrie-Baukunst und jüdische Familiengeschichte
„Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern”, dieser Spruch trifft heute auf unsere digitalen News- und Social-Media-Kanäle wie Twitter & Co. zu. Vor gut 140 Jahren setzte mit dem Wachstum Berlins zur Millionenmetropole auch das Zeitungsgeschäft zu einem neuen Höhenflug an. Die Menschen waren gierig nach Neuigkeiten aus dem In- und Ausland. Seinerzeit entstand in Berlin-Mitte, konkret entlang der Kochstraße, das Zeitungsviertel der jungen Reichshauptstadt. Zu den Pionieren dieses neuen Wirtschaftszweiges gehörte der von Leopold Ullstein im Jahr 1877 gegründete Verlag, der Tageszeitungen und Bücher verlegte und bereits um 1900 einen ganzen Häuserblock im Zeitungsviertel einnahm.

Für den Ullstein-Verlag wurden die vorhandenen Räumlichkeiten in den 1910er Jahren zu klein – Bauland in der Innenstadt war rar und teuer. Der Ullstein-Verlag beauftragte den Architekt Eugen Georg Schmohl mit den Planungen eines Neubaus, der 1927 in Tempelhof eröffnet wurde. Der Neubau vereinigte viele Ansprüche des extrem erfolgreichen Verlagshauses: Repräsentation, Wehrhaftigkeit und Wachstum.
Unterschiedlich hohe Gebäudekörper wurden um einen Hof zu einer Collage zusammengefügt. Im unteren Bereich ist das Gebäude breit gelagert und eher abweisend, während es nach oben schlanker und auch filigraner wird. Die abwechslungsreich dimensionierten Gebäudeteile verbinden das einheitliche Fassadenmaterial: roter Klinker. Weithin sichtbar ist das schlanke Hochhaus mit 77 m, welches bis 1957 den Rekord als höchstes Hochhaus Deutschland hielt. Und eine Uhr in luftiger Höhe im Durchmesser von 7,20 Metern deutet auf die Funktion als Fabrik hin. In den neuen Räumen fand die Produktion statt: aus Buchstaben wurden Wörter, die Druckplatten wurden hergestellt und in Drucksälen lief die neueste Tageszeitung vom Band. Es war Europas modernstes und größtes Druckhaus.

Und auf der obersten Etage hatten die Mitarbeiter von der Terrasse die beste Aussicht auf die qualmenden Schornsteine Berlins. Auch das Wahrzeichen des Verlags, die Eule, wurde baukünstlerisch von Fritz Klimsch neu interpretiert und erhielt einen prominenten Platz über dem Seiteneingang für die Arbeiter am Mariendorfer Damm. Bautechnisch handelt es sich um eine Stahlbetonskelettkonstruktion und die Wände sind in Beton gegossen. Die Wirkung ist auf die Ansicht vom Teltowkanal und vom Mariendorfer Damm ausgerichtet. Vertikale Profile, horizontale Elemente und ein minimalistischer Einsatz von Skulpturen und dekorativen Details lassen das Bauwerk sachlich Modern wirken, wenngleich gotische Zitate erkennbar sind. Insgesamt überwiegt ein emporstrebender Gesamteindruck, dem nur die roten Klinker eine erdende Aura geben.

Nur wenige Jahre zuvor hatte der Architekt Eugen Georg Schmohl in Tegel den Borsigturm mit ca. 65 m Höhe errichtet. Zwar lassen sich Ähnlichkeiten zwischen den Häusern in der expressionistischen Formensprache erkennen, jedoch steht der Borsigturm frei und vermittelt so viel eher den Eindruck eines Hochhauses nach US-amerikanischem Vorbild. In Tempelhof war jedoch das Gebäude nochmals höher. Zum Vergleich: Kurze Zeit später, 1928-30, entstand in New York das Chrysler Building mit 319 m.
Dem Neuanfang in Tempelhof wurde jedoch durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 ein abruptes Ende gesetzt. Die jüdische Familie Ullstein war aufgrund neuer Gesetze dazu gezwungen, ihr Unternehmen zu verkaufen. Es kam zu einem Zwangsverkauf des 60-Mio-Unternehmens für 6 Millionen Mark. Das Ullstein-Druckhaus in Tempelhof wird zum Sitz des Deutschen Verlags. Jüdische Angestellte verloren ihre Arbeitsplätze. Nach dem Krieg wurde der Verlag in mehreren Schritten – erst Gebäude, dann Lizenzen – an die Familie Ullstein zurückgegeben, geriet aber bald in finanzielle Schwierigkeiten. Im Jahr 1956 erwirbt Axel Springer Anteile am Verlag und übernimmt drei Jahre später die Aktienmehrheit. Heute ist das einstige Zentrum für Presse und Medien ein Geschäftshaus.

Das expressionistische Gebäude hat jedoch nichts von seiner Faszination eingebüßt. Es ist eines der zentralen Wahrzeichen von Tempelhof mit einer bewegten Geschichte. Gleichzeitig gäbe es ohne Ullstein die B.Z. und die Berliner Morgenpost, von den Ullsteins seit 1898 herausgegeben, nicht.
Dr. Carsten Schmidt