Das Reichstagsgebäude im Wandel der Epochen
Zwischen dem klassizistischen Brandenburger Tor und hochmodernen Fernsehturm reiht sich das Reichstagsgebäude nach den Plänen von Paul Wallot – erbaut zwischen 1884 und 1894 – in die Reihe der Berliner Monumente ein. Es markierte in seiner Historie mehrfach den Aufbruch Berlins in eine neue Epoche. Zehn Jahre nach der Fertigstellung wurde das Reichstagshaus – so die Bezeichnung in der damaligen Zeit – als Wallots Hauptdenkmal des Bismarck-Zeitalters bezeichnet. „Der Reichstagsbau ist eine Leistung, in welcher die Nation ihr Höchstes und Bestes gegeben hat”, so M. Rapsilber in der Zeitschrift Baumeister 1904.

Aber es war ein langer Weg bis zum Baubeginn: Bereits im Frühjahr 1871 hatten die Abgeordneten den Bau eines neues Reichstagshauses beschlossen – ein Bauwerk als Denkmal für die Wiedervereinigung. Es gab zwei Ausschreibungsrunden bis der Siegerentwurf vom Architekten Paul Wallot feststand. Am 9. Juni 1884 fand die feierliche Grundsteinlegung des Reichstagshauses statt und am 5. Dezember 1894 wurde das Gebäude seiner Bestimmung übergeben. Besondere Herausforderung war, dass die Hauptfassade zum Königsplatz im Westen liegen sollte, während die Berliner Innenstadt genau zur anderen Richtung lag und die Fassade ebenfalls nicht vernachlässigt werden durfte.
Zwischen dem einstigen Siegerentwurf Wallots und dem fertigen Gebäude lag ein Abstimmungsmarathon mit endlosen Änderungen. Wallot gelang es die zahlreichen Ideen, Wünsche und Bedenken unter einen Hut zu bringen. Trotz Zugeständnissen behielt er seine architektonische Vision im Blick, damit am Ende ein Bauwerk von nationaler Bedeutung entstand. Vier Ecktürme umgaben die überragende baldachinartige Kuppel, an der Hauptfront eine Freitreppe samt Rampe, Säulen, giebelgekrönte Fenster, Eckpfeiler, eine beeindruckende Halle und viele Säle, die mit ihren malerischen und plastischen Gestaltungen in Form von Wappen, Symbolen und Ornamenten die vielen Staaten repräsentierten und verbanden, aus denen das neue Deutsche Kaiserreich 1871 hervorgegangen war.

Entsprechend der Technikbegeisterung der Zeit wurden nach Fertigstellungen zahlreiche Maßangaben gelobt, z.B. die Glashaube über dem Sitzungssaal erreichte 42 m und die abschließende Laterne sogar 75 m. Nahezu symmetrisch erfolgte die Grundrisskonzeption, denn alle Räume, Höfe und Säle orientierten sich am großen Sitzungssaal, dem zum Königsplatz hin eine Halle vorgelagert wurde. Auch die Form des Königsplatzes wurde mehrfach angepasst. Hier stand seit September 1873 die Siegessäule – bestehend aus Unterbau, einer tempelartigen Halle und der herauswachsenden Säule – und gab dem neuen Viertel seine Identität.

Zum Reichstagsgebäude schuf Wallot auch das Reichstags-Präsidialgebäude – den Wohnsitz für den Reichstagspräsidenten und den Direktor. Es liegt gegenüber der Ostfront und zum Ufer. Somit mussten zwei Fassaden ausgebildet werden, die im Bezug zur Umgebung eine angemessene Wirkung haben. Wallot gliederte die Baumassen sehr lebhaft und gleichzeitig erzielte er mit Dreiecksgiebeln, großen Fenstern und Kolossalsäulen einen monumentalen Eindruck. Das Gebäude entstand von 1897 bis 1904. „Eine schönere und eigenartigere Lösung der Aufgabe lässt sich gewiss nicht ausdenken”, so Rapsilber.
Natürlich war der Reichstag seit seiner Einweihung immer wieder Austragungsort und Kulisse für gesellschaftliche und politische Umbrüche. So zogen am 21. Oktober 1898 die ersten Frauen in das Reichstagshaus ein. Der Verein „Frauenwohl” organisierte seine erste Sitzung im Saal 31. Es wurde vom Londoner Sittlichkeitskongress und von der 3. Generalversammlung der deutschen Frauenvereine berichtet. Die Sitzungen hatten noch keine politische Bedeutung. Der Reichstagsbrand 1933, die Eroberung des Gebäudes am Ende des Zweiten Weltkrieges und die Sprengung der Kuppel 1954 gehörten mit zu den einschneidenden Ereignissen für das Gebäude.

Während der Teilung wurde die Ruine nach den Plänen des Architekten Paul Baumgarten im modernen Formenkanon bis 1973 wiederaufgebaut. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hatte ihren Sitz in Bonn und somit stellte sich die Frage nach der Verwendung des Bauwerks im geteilten Berlin. Es wurde zum Museum über die Geschichte des Reichstagsgebäudes. Aufgrund der direkten Nähe zur Berliner Mauer besuchten viele ausländische Gäste das Gebäude.
Nach dem Schattendasein katapultierte im Sommer 1995 das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude das Bauwerk auf die Weltbühne der Kunst und Architektur. Die Gebäudekubatur erhielt einen silbernen Mantel, der weltweit für Aufmerksamkeit sorgte. Diese Kunstaktion bildete den Auftakt für eine spektakuläre Transformation des Gebäudes. In den nächsten Jahren wurde noch vorhandene Originalsubstanz erhalten und behutsam ergänzt, während im Gebäudeinneren ein hochmodernes Regierungsgebäude entstand. Höhepunkt bildet die Glaskuppel mit ihrer spiralförmigen Rampe für Besucher. Mit dieser Verwandlung erhielt das Gebäude seine ursprüngliche Bedeutung zurück und ist heute erneut Symbol für das politische Berlin.
Dr. Carsten Schmidt