Ein entlaufenes Gürteltier in der City-West

Fahrstühle Ludwig-Erhard-Haus, Fahrstühle
© Markus Christ / pixabay.com

Das Ludwig-Erhard-Haus zwischen Futurismus und Naturalismus

Beim Gürteltier mag manch einer an den Berliner Zoo denken, aber tatsächlich befindet sich ein architektonisches Gürteltier ganz in der Nähe: nämlich an der Ecke Hardenbergstraße und Fasanenstraße. Es handelt sich um das von 1994 bis 1997 nach den Plänen vom britischen Architektenteam Nicholas Grimshaw & Partner entworfene und errichtete Büro- und Konferenzgebäude, benannt nach einem der einflussreichsten Aufbaupolitiker Ludwig Erhard (*1897, †1977), mit seiner ikonischen Gestaltung. Es wurde 1998 eröffnet und ist Sitz der Industrie- und Handelskammer Berlin IHK.

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Das Ludwig-Erhard-Haus führt seine Besucher und die hier arbeitenden Büromitarbeiter in eine ästhetisch zukunftsgläubige Zeit, in einen Sciencefiction-Film, James Bond Movie, in ein Raumschiff oder einfach in die nächste Veranstaltung zum Arbeitsrecht. Es taucht als Berliner Sehenswürdigkeit beim Online-Portal Tripadvisor auf. Mit vier von möglichen fünf Sternen bewertet, wird in den Kommentaren deutlich, dass von den Berlintouristen die Gürteltier-Assoziation nicht unbedingt nachempfunden werden kann. Dies liegt vermutlich vor allem daran, dass vom einstigen Entwurf am Ende nur wenig geblieben ist. Jedoch aus der Vogelperspektive sind die organischen Formen und die einzelnen Rippen deutlich erkennbar. Wie ein Tier in einem Käfig scheint das Gebäude zwischen den umliegenden Gebäuden eingesperrt zu sein. Oder wie der Architekturexperte Falk Jaeger schieb: „Wer heute die Fasanenstraße entlanggeht, erlebt nichts von der Faszination, die der Wettbewerbsentwurf einst versprochen hatte und ahnt höchstens hinter dem Rastergitter der Fassade das gefangene Gürteltier“.

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© Neuköllner, Ludwig-Erhard-Haus, Fasa-nenstraße 85, Berlin-Charlottenburg, Bild 4, CC BY-SA 4.0

Das Gürteltier bilden die 15 sich an den Seiten und zu den Bodenauflagen verjüngenden Stahlbögen mit unterschiedlich hohen Scheitelpunkten –höchster Bogen bis zu 38,6 m und eine maximale Spannweite von 61,2 m. Der für den Fasanenstraßenflaneur sichtbare Gebäudekörper ist wie eine schwebende Schachtel zwischen die Bögen eingesetzt und bildet zur Fasanenstraße eine glatte fünfgeschossige Fassade mit Bezug zur Berliner Traufhöhe. Dies ist nur ein kleiner Teil des Inneren. Zur anderen Seite zeigt sich die eigentliche organische Form des Architekturentwurfs. Die matten silberfarbenen Oberflächen, vor allem für die konstruktiven Elemente, lassen das Gebäude modern wirken. Und eine großzügige Verwendung von Glas und vielen runden Formen an den Fassaden unterscheiden das Ludwig-Erhard-Haus von dem 1979 entstandenen ICC Berlin. So entstand ein Büro- und Veranstaltungshaus mit vier sehr unterschiedlichen Fassaden, von organisch über futuristisch bis hin zur glatten fünfgeschossigen Glasfassade, die sämtliche Spielarten moderner Architektur durchleben.

Spektakulär sind die 8-geschossigen Atrium-Hallen über dem Haupteingang, denn in ihnen wirken die sechs Panorama-Lifte wie Zukunftskapseln im 70er Jahre Look. Sie bringen die Mitarbeiter auf die gewünschte Büroetage. „Vom Erdgeschoss aus verteilen sich die Menschen entweder hinunter ins Untergeschoss oder hinauf in die Büroetagen. Diese sind, obwohl baulich unabhängig von den unteren Bereichen des Gebäudes, um zwei raumhohe Atrien herum angeordnet, die wiederum Ausblicke ins Untergeschoss ermöglichen: Besonders beeindruckend ist der Blick vom größeren der beiden Atrien hinunter in die Börse.“, so Jens Willebrand. Somit kommt viel Tageslicht in das Ludwig-Erhard-Haus. Gläserne Brücken verbinden Lifts und Geschosse miteinander. In den Abendstunden strahlt das Gebäude von innen heraus in den Stadtraum. Alles besitzt auch heute eine gewisse Sterilität, Anonymität und Hypertransparenz. 

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Vielfalt oder Angepasstheit, dieses Gebäude passt in keine Schublade. Die Enttäuschung von nicht realisierten Entwürfen dürfte heute einer neuen Bewertung weichen. In gewisser Weise lässt sich die Offenheit der Nachwendejahre erkennen. Und im Vergleich zur Berliner Lochfassaden-Baukunst der 2000er Jahre ist das Gebäude geradezu international, unangepasst und auch frech in seiner Jugendlichkeit.

Dr. phil. Carsten Schmidt

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